Bericht: Schule der Nation, Arena der Demokratie? Gemeindeselbstverwaltung in den böhmischen Ländern

Im Rahmen des 2. Kolloquiums Wien-München „Staat und Verwaltung im Gespräch“ am 29.06.2018.

Vortrag von Milan Hlavačka (Prag): „Schule der Nation, Arena der Demokratie? Gemeindeselbstverwaltung in den böhmischen Ländern“

Kommentatoren: Robert Luft (Collegium Carolinum, München) und Pavel Kladiwa (Universität Ostrava)
Moderation: Marion Dotter (Collegium Carolinum, München/Universität Wien)

 

Milan Hlavačka (Prag) stellte am 29.06.2018 im Rahmen des „2. Kolloquiums Wien-München: Staat und Verwaltung im Gespräch“ die in Arbeit befindliche deutsche Übersetzung seines 2006 erschienen Werkes „Zlatý věk české samosprávy 1862 – 1913“ vor. Das Buch über das „goldene Zeitalter“ der tschechischen Selbstverwaltung befasst sich mit Fragen zu Gemeinde- und Bezirksverwaltung, Nationalitätenfrage, Beziehungen zwischen (Selbst-)Verwaltung und verschiedenen Einrichtungen wie Schulen, Lokalbahnen etc. und nimmt ebenso Ausnahmefälle wie das mährische Znaim in den Blick. Sehr deutlich trat die Verbindung zu verschiedenen Mustern der Identitätsbildung in Erscheinung, was bereits am Beginn zu Diskussionen führte. Hlavačka fuhr fort, seinen Zugang von anderen Darstellungen der Selbstverwaltung abgrenzen zu wollen (Vgl. Jiří Klabouch, Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, Wien 1968) um seine Analyse der gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und Praxis durchzuführen. Besonderes Augenmerk liegt bei ihm auf der Bildung der Zivilgesellschaft in Böhmen. Dabei setzt er sich mit unterschiedlichen Teilbereichen auseinander, wie etwa mit wirtschaftlichen Grundlagen, der Bedeutung von Vereinen oder der Tätigkeit autonomer Gremien.
Zudem sucht Hlavačka in seiner Forschung gezielt nach Konfliktfeldern der bürgerlichen Gesellschaft innerhalb der böhmischen Selbstverwaltung. Als Quellenmaterial dienten im dazu die Erkenntnisse des im Jahr 1876 gegründeten Verwaltungsgerichtshofes in Wien, wobei er sich auf die Fälle der böhmischen und mährischen Selbstverwaltung konzentriert. Anhand von Argumentationsstrategien der Kläger und Angeklagten (Schrift/Gegenschrift) sowie zusätzlichen Informationen aus Protokollen zeigt sich laut Hlavačka ein Streitpotential, das als Ausgangspunkt für eine „neue liberale Zivilgesellschaf“ gewertet werden kann.

Als Beispiel führt Hlavačka erneut die königliche Stadt Znaim an, deren Rat sich um die Abschaffung des Attributs „königlich“ bemühte. Habermas folgend verortet er darin eine Störung der Bürgerrechte durch die Abschaffung eines traditionellen Titels, was wiederum zu einer neuen Identitätsbildung/-transformation führt.

Es folgten die Kommentare von Robert Luft (Collegium Carolinum, München) und Pavel Kladiwa (Universität Ostrava)

Robert Luft ergänzte einige wichtige Überlegungen und Kommentare. So stellte er etwa die Frage, ob sich bei Hlavačkas Forschung zur tschechischen Selbstverwaltung nicht eher um eine Schule der Gesellschaft statt einer Schule der Nation handeln würde. Allgemein stellte er die Metapher der Schule in Frage, denn es lag kein „Curriculum oder Lehrplan zur Lösung gesellschaftlicher Probleme“ vor. Außerdem verwies er auf den langen Zeitraum 1848­ – 1914, der vom Wandel des Verständnisses vom Staat von einer Autokratie zum Dienstleisters der Gesellschaft hin geprägt war. Er stellte zudem zur Diskussion, ob Politisierung zwingend vor einer Bürokratisierung stattfindet. Luft merkte schließlich noch die Problematik des Öffentlichkeitsbegriffes an, der von einer homogenen Gesellschaft mit gleichmäßigem Zugang zu Politik ausgeht, und verwies auf die deutlich separierte und heterogene historische Praxis, beispielsweise anhand lokaler Öffentlichkeiten gegenüber nationaler Öffentlichkeiten etc. Eine ähnliche Herausforderung statuierte er für den verwendeten Identitätsbegriff. Luft regte außerdem an, soziale Schichten differenzierter zu betrachten (Kleinadel, nobilitierte Schicht, Wirtschaftsbürgertum, Frauen als wichtige und politische Akteure, Beamtenschaft, freie Berufe & Akademiker im Staatsdienst usw.) sowie die Langlebigkeit lokaler Rechtstraditionen genauer zu analysieren.

Pavel Kladiwa unterstrich den Wert von Hlavačkas Forschung und hob sein besonderes Gespür für regionale Besonderheiten hervor. Welche Rolle die Sprache in mehrsprachigen Gebieten spielte und welche symbolische Bedeutung sie hatte, weise Hlavačka anhand vieler Beispiele nach. Schließlich betont Kladiwa die wichtige Auseinandersetzung mit der Entstehung der liberalen Zivilgesellschaft nach 1848 und Hlavačkas Zugang, Konfliktpotentiale und Praxis in den Blick zu nehmen.

Es folgte eine kurze Stellungnahme Hlavačkas auf die Kommentare seiner beiden Kollegen sowie eine offene Diskussionsrunde. Peter Becker (Universität Wien) stellte die Frage, ob sich Muster erkennen ließen, welche Gemeinden und Akteure vor dem Verwaltungsgerichtshof auftauchten. Hlavačka verwies auf die Heterogenität in den Auseinandersetzungen, mit einer gewissen Dominanz der Gemeinde Prag, da diese ständige Advokaten in Wien hatten. Prag verlor dennoch verhältnismäßig mehr Urteile. Grundsätzlich hatte jeder Zugang, so ging sogar ein einzelner Bürger im Fall einer auf Gemeindegrund geschlachteten Ziege vor den Verwaltungsgerichtshof. Peter Beckers zweite Frage beschäftigte sich mit der Wahrnehmung und möglichen Diskussionen innerhalb der Gemeinden bezüglich verschiedener, durch den Staat auferlegter Aufgaben („Bürden“). Hlavačka führte das Beispiel eines Elementarschadens (Überschwemmung) an, bei dem die wichtige Rolle der Gemeinde (und auch des Kaisers) deutlich wird. Damit verbunden sieht Hlavačka ein Misstrauen der Staatsverwaltung hinsichtlich der Veruntreuung von Geldern (Kreishauptmann sitzt nicht in Kreishauptstadt). Jana Osterkamp stellte eine Frage nach den zentralen Akteuren, welche die Angelegenheiten der Gemeinden an den Landesausschuss herantrugen, um spezifische Dienstleistungsangebote einzufordern. Hlavačka konnte den Ausgang solcher Initiativen klar bei einzelnen Abgeordneten und fachlich versierten Akteuren festmachen.

Darüber hinaus folgten Diskussionen zu den Themenbereichen der Kommunalfinanzen, Wirtschaftsunternehmen, der Bedeutung des Kaisers und lokalen Identitäten. Das „2. Kolloquium Wien-München: Staat und Veraltung im Gespräch“ durfte somit Plattform für die differenzierte Auseinandersetzung mit der Entwicklung von Selbstverwaltung und Zivilgesellschaft sein. Milan Hlavačka konnte anhand seines differenzierten Zugangs und des spannenden Quellenmaterials den Schritt jenseits eines eindimensionalen Narrativ á la Staat-gegen-Selbstverwaltung setzen und damit eine vielschichtige Praxis in das Blickfeld rücken.

 

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